Touch me, Baby!

Seit ein paar Monaten machen wir große Bögen umeinander, selbst gute Freunde nehmen wir zur Begrüßung nicht in den Arm. Das hält uns vielleicht Covid-19 vom Leib – aber in anderer Beziehung ist es ziemlich ungesund. Und das ist sogar wissenschaftlich belegt

Plötzlich war da ein Virus in der Welt, und mit ihm lauter neue Verhaltensmaßregeln. Abstand halten ist seit Anfang des Jahres 2020 erste Bürgerpflicht. Maske tragen. Unnötige Kontakte vermeiden. Es gibt nicht wenige, die ihren Eltern oder Großeltern immer noch bloß durch geschlossene Fenster zuwinken. Und dann ist da noch diese eine Empfehlung, die Martin Grunwald, so ein pragmatisch, eine echt harte Ansage findet: die Finger vom eigenen Gesicht fernhalten.

„Jeder Mensch fasst sich etwa 400 bis 800 Mal am Tag ins Gesicht“, sagt der Haptikforscher an der Uni Leipzig in einem Interview, „und frischt durch diese Eigenberührung das Kurzzeitgedächtnis auf oder beruhigt hochfahrende Emotionen.“ Ein unbewusster Akt, schwer zu kontrollieren, und das doch zu versuchen: puh. Der Stress ist vorprogrammiert. Und vor allem, wenn Grunwald recht hat: nicht gut für unser Gedächtnis und unsere Ausgeglichenheit.

Die Abwesenheit des Anfassens – uns selbst und andere – ist ein lange Zeit wenig beachteter Kollateralschaden dieser Pandemie. Wenig beachtet deshalb, weil den meisten von uns gar nicht so recht bewusst ist, wie wichtig Berührung ist. Und das ist tatsächlich ein komplett wissenschaftlicher Fakt, es gibt weltweit einen Haufen Universitätsinstitute, die sich ausschließlich damit beschäftigen.Zum Beispiel das Touch Research Institute an der University of Miami. Das gibt es seit 1992, gegründet worden ist es von der Psychologin Tiffany Field. Die, eine Pionierin der Anfasswissenschaften, hat zu Beginn ihrer Karriere an der Entwicklung von Babys und Kleinkindern geforscht, und da ist ihr das Ding mit dem Anfassen zum ersten Mal aufgefallen: Frühchen, die öfter gestreichelt werden, nehmen deutlich schneller Gewicht zu als andere.

Babys mit Körperkontakt sind wacher, ausgeglichener, fröhlicher. Schnell hat sich Field einen Namen gemacht als Propagandistin von Babymassagen, und nachdem sie dann ihr Institut in Miami aufgemacht hat, ihr Forschungsgebiet auf alle Altersgruppen ausgeweitet. Ihre Ergebnisse sind, so rein medizinisch betrachtet, durchaus verblüffend: Streicheleinheiten verbessern unsere Aufmerksamkeit, lindern Phasen depressiver Verstimmung signifikant, Stresshormone werden abgebaut, das Immunsystem wird gestärkt, sogar Schmerzen als nicht mehr so schlimm empfunden.

Was natürlich Fragen aufwirft: Warum gibt es Berührungstherapie eigentlich nicht als Kassenleistung? Werden wir jetzt alle depressiv und schmerzempfindlich, weil Covid-19 uns am Anfassen hindert? War das jemals Thema in der Corona-Taskforce der Bundesregierung? Und mit wem kuschelt eigentlich Christian Drosten?

Und vor allem: Was machen wir jetzt, wo wir alle mindestens 1,50 Meter Abstand voneinander halten müssen? Die Antwort ist ziemlich einfach: bewegen. Denn auch vom Laufen, Hüpfen, Radfahren und Tischtennis wissen wir, dass es Depressionen vorbeugt, die Sauerstoffaufnahme verbessert, Killerzellen aktiviert und deshalb unser Immunsystem stärkt.

Sport gucken, das noch zum Start in die neue Bundesligasaison, hilft da eher bedingt. Aber wo wir gerade dabei sind – auch das ist ein Ergebnis der Untersuchungen von Haptikforschern: Sportteams, in den die Mitspieler untereinander viel Körperkontakt haben, sind deutlich erfolgreicher als die, bei denen nicht so viel angefasst wird. Vielleicht ist es in diesem Fall aber auch anders herum: Tabellenletzte haben in der Regel wenig Grund zum Jubeln. Und somit auch keinen, sich ausgelassen in die Arme zu fallen.