Luxusartikel, Kulturgut, Energiespender, süchtig und krank machender Teufel in Kristallform… Ja: All das war und ist der gemeine Zucker. Aber man kann das Biest zähmen, mit ein bisschen Weitsicht und der richtigen Art, Verpackungen zu lesen

Juliane Rad fluchte. Da besaß ihr Mann nun schon die Zuckerraffinerie im mährischen Datschitz, aber diese Zuckerhüte, aus denen man die Portionen herausschlagen musste, waren einfach saugefährlich. Schon wieder hatte sie sich an dem Ding geschnitten, der ganze schöne, teure Zucker: vollgeblutet! Und die Gäste quasi vor der Tür! Aber sie stellte die blutgetränkten Kristalle trotzdem auf den Tisch, es war das Jahr 1840 und Zucker noch ein teures Luxusgut. Ihren Gatten jedoch bat sie inständig, doch irgendetwas zu entwickeln, um das „weiße Gold“ in praktischere Portionen zerteilen zu können. Also erfand Jacob Christoph Rad aus süßer Liebe und Sorge um die Unversehrtheit seiner Frau eine Maschine, die Zucker in kleine Würfel pressen konnte.
Damit hat der Mann gleich eine neue Währung miterfunden. In mehrfacher Hinsicht: Tatsächlich waren Zuckerstücke in (Nach-)Kriegs- und anderen Krisenzeiten begehrte Tauschwährung, aber die Stückchen – drei Gramm wiegt so eins – sind auch ein beliebter Maßstab geworden für den Zuckergehalt in Lebensmitteln. Ihr wisst schon: Ein Liter Cola = 40 Stück Zucker, 100 Gramm Nutella = 19 Stück Zucker, Erdbeerjoghurt = 8 Stück Zucker… Und apropos acht Stückchen Zucker: Das, umgerechnet etwa 25 Gramm extra zugesetzten Zuckers, ist die Menge, die die WHO als Tageshöchstdosis für einen erwachsenen Menschen empfiehlt. Bis dahin ist Zucker nicht nur okay, sondern wichtiger Treibstoff für den Stoffwechsel. Darüber hinaus wird er ein echtes Problem.

Aber Zucker, was ist das überhaupt? Und wo kommt er her?

Okay, fangen wir mit der zweiten Frage an. Die ältesten Zuckerrohrfunde in Indonesien kann man auf ungefähr 8.000 vor Christus datieren, zwei Jahrtausende später gab es die Pflanze dann auch in Indien und Persien. Die Römer importierten das Zeug dann nach Europa, aber Zucker war so teuer, dass nur sehr reiche Familien ihre Orgien damit versüßen konnten. Die Perser waren es dann wieder, die um 600 nach Christus herum den Zuckerhut erfanden, mit dem sich später die gute Juliane Rad so quälte. Die Kreuzfahrer brachten davon welche nach Mitteleuropa, das „indische Salz“ wurde, fast lustig aus heutiger Sicht, als beinahe unerschwingliche Arznei in Apotheken verkauft. Und auch, als ab 1500 weltweit Zuckerrohrplantagen angelegt wurden, blieb es ein Luxusartikel. Das gemeine Volk benutze Honig zur Süßung seiner Speisen. Und ab dem 18. Jahrhundert auch den Saft von Zuckerrüben. Erst mit der Industrialisierung von allem, die Mitte des 19. Jahrhunderts begann, wurde auch Zucker zum erschwinglichen Massengut.
 Das ist das Zeug, das wir heute Haushaltszucker nennen. Oder die Chemiker unter uns: Saccharose. Die besteht aus Fruktose und Glukose und wird vom Körper auch in diese beiden Bestandteile aufgespalten. Das ist jenseits der empfohlenen 25 Gramm… na ja: schwierig. Glukose mit seinem hohen glykämischen Index sorgt für die Ausschüttung eines Hormons, das die Insulinantwort steuert und den Fettansatz fördert und letztlich den Typ-2-Diabetes züchtet. Fruktose hat zwar einen niedrigeren Glyx und lässt den Blutzuckerspiegel nicht so dramatisch ansteigen, sorgt allerdings im ungünstigsten Fall für die neue Volkskrankheit Fettleber und Übergewicht im Bauchbereich. Dieses Fett wiederum setzt Hormone und Entzündungsmediatoren frei, „Silent Inflammation“ entstehen. Diese stillen Entzündungen stören die Immunabwehr und stehen im Verdacht, Krebs zu fördern und lauter andere schlechte Dinge zu verursachen. Übergewicht und Adipositas sind ein weltweites Übel geworden, die Zahl der Diabeteskranken auf dem Planeten hat sich seit 2000 mehr als verdreifacht – und wird sich in den kommenden 20 Jahren noch einmal verdoppeln.

Es gibt eine gute Nachricht:

Wir können unseren Zuckerkonsum steuern. Zum einen reden wir hier über zugesetzten Zucker – jener, der in Lebensmitteln ohnehin natürlich gebunden ist, ist weitgehend unproblematisch. Aber man muss auch lernen, die Verpackungen von Fertiglebensmitteln zu lesen. Wird etwas als „zuckerfrei“ gelabelt, darf es trotzdem noch 0,5 Prozent Zucker enthalten. Als „zuckerarm“ gilt, was die Fünf-Prozent-Hürde nicht reißt. „Ohne Zuckerzusatz“ bedeutet zwar genau das – aber nicht, dass man, wie zum Beispiel in Smoothies, nicht schon eine natürliche Zuckerbombe konsumiert. Oder dass gleich Süßstoffe zugesetzt sind, die vor allem bewirken, dass Hirn und Darm in maximale Verwirrung gestürzt werden und Hormone ausschütten, die gar nicht wirklich gebraucht werden. Also: Finger weg von künstlichen Süßmachern!
Und nu?

Hier unsere Top-5-Zuckertipps:

Keine Softdrinks mehr. Cola & Co. enthalten zu viele der Rad’schen Zuckerstücke, die Zero-Sugar-Formen machen, wie eben geschildert, nichts besser.
Wenn Ihr die Wahl habt zwischen einem Smoothie und einem Stück Obst: Letzteres ist das Mittel der Wahl, denn das Kauen eines Apfels allein tut viel für die Regulierung des enthaltenen Fruchtzuckers.
Auch keinen Zucker mehr in Tee oder Kaffee (außer, man ist Ostfries*in, da gehört der Kluntje im Tee zum Kulturgut). Auch nicht auf Erdbeeren, und selbst bei Kuchen sollte man ihn mal weglassen. Warum? Weil wir verlernt haben, ungesüsste Speisen und Getränke in ihrer reinen Form zu uns zu nehmen. Das war vor der Massenverbreitung des Zuckers anders, und wenn Ihr es probiert und dann vielleicht ein zweites und drittes Mal, werdet Ihr feststellen, dass vieles, dem Ihr ganz selbstverständlich Zucker oder Süßstoff zugefügt hat, einen eigenen und ziemlich guten Geschmack hat. Und vor allem: einen natürlichen.
Lest im Supermarkt. Schaut Euch genau an, was sich in dem Produkt befindet, das ihr gerade in den Wagen legen wollt. Wetten, dass Ihr einen Großteil der Lebensmittel wieder zurückstellt? Was uns zu unserem wichtigsten Tipp bringt:
Das Sein bestimmt das Bewusstsein, hat Marx mal gesagt. Beim Zucker ist es genau umgekehrt: Werdet Euch bewusst darüber, wie viel Zucker Ihr Euch einverleibt. Konsumiert natürliche Lebensmittel! Schlagt der Food-Industrie, die Zucker verarbeitet, als gäbe es kein Morgen, ein Schnippchen! Kocht selbst! Holt Euch die Kontrolle zurück über den Treibstoff, dem Ihr Euren Körpern zufügt. Denn die werden es Euch danken.