Corona und seine Kollateralschäden: Weil wir nicht mehr in die Läden gehen können, bestellen wir unser Leben bei Amazon – und meist viel mehr, als wir brauchen. Aber nicht nur der Mangel ist belastend, sondern auch der Überfluss. Eine Anleitung für den Einstieg in den Minimalismus

 

Hackney ist ein Viertel im Londoner Osten, und man tritt ihm nicht zu nahe, wenn man behauptet, dass es die meiste Zeit seiner Existenz nicht zu den feineren Gegenden der Stadt gehörte. Noch bis vor ein paar Jahren war der Stadtteil ein Sammelbecken von Menschen am unteren Rand der Gesellschaft, die mit zu vielen Mitbewohnern in viel zu kleinen Wohnungen hausten, mit einer zuverlässig unzuverlässigen Infrastruktur. Wenn sie ausmisteten, taten die Hackney-Bewohner das sehr unmittelbar und stellten ihr Zeug einfach an der nächsten Straßenecke ab. Was die nächsten als Aufforderung verstanden, ihre Sachen auf dieselbe Art an der derselben Stelle zu entsorgen. Rund um die Mare Street war Hackney sehr lange ein gigantischer Recyclinghof, von der Stadtreinigung weitgehend ignoriert.

Hat sich geändert, es gentrifiziert auch kräftig in diesem aufgehübschten Stadtteil, aber der sogannte „Hackney-Effekt“ ist in die Wissenschaft eingegangen. Denn was da im Großen passiert, erleben wir alle bei uns im Kleinen. Sobald wir zuhause einen Zeitungsstapel aufmachen, können wir sicher sein: er wächst. Jeder Klamottenhaufen wird mit weiterem Zeug angereichert, und weil wir immer mehr anschaffen, müssen auch ständig neue Aufbewahrungsmöbel her. Irgendwo ist ja immer noch eine Ecke, in die ein IKEA-Regal passt.

Corona hat die Sache ordentlich befördert, Onlineshopping die Kauflust enthemmt. Aber jede Bewegung hat auch eine Gegenbewegung. Deshalb kocht seit ein paar Monaten ein Trend hoch, der schon länger auf niedriger Temperatur vor sich hinsimmerte – die Sehnsucht nach dem einfachen Leben, mit weniger Möbeln, Büchern, Klamotten, Nippes. Minimalismus steht für etwas. Für Freiheit, für Struktur, für Luft, für Entlastung. Für das Gefühl, das etwas Wert und Bestand und Nachhaltigkeit besitzt, einfach deshalb, weil es nicht viel anderes gibt.

Na dann: Alles raus, was keine Miete zahlt! Würden jetzt Menschen sagen, die die psychologische Verfasstheit eines Brückenpfeilers haben. Wir anderen wissen: Die Sache ist komplizierter. Erstens ist da dieser unüberschaubare Berg, wo zum Teufel fängt man mit seiner Besteigung an? Zweitens hängen wir auch an unnützen Dingen, da kämpfen Herz und Kopf bis zur Erschöpfung um jedes einzelne Teil. Und erschöpft wird man sein: Ausmisten ist ein extrem anstrengender Vorgang, körperlich wie geistig.

Wo also anfangen?

Wir empfehlen dem „Eat the frog“-Start. Der geht so:

Man sucht sich einen Gegenstand aus, den man wirklich liebt – und gibt ihn weg. Verschenken, verkaufen, egal, Hauptsache, die Lektion wird gelernt: So sehr man auch an dem Ding gehangen hat – es gibt ein Leben danach. Das macht jeden anderen Verzicht danach sehr viel leichter.

Und weiter?

Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Man könnte sich an Marie Kondo halten, die japanische Aufräum- und Wegwerf-Päpstin. Die sagt: Schmeiß alle Besitztümer auf einen Haufen, nimm jedes Stück einzeln in die Hand und beobachte, was es mit dir macht. Empfindest du echte Freude, behalt es. Wenn nicht: weg damit. Man wird erstaunt zur Kenntnis nehmen, wie wenig Dinge um uns herum es gibt, die wirklich etwas bedeuten.

Wie wär’s alternativ mit umgekehrtem Shopping? Geht so:

Man schnappt sich einen großen Korb und läuft durch die eigene Wohnung. Diesen Korb befüllt man nach und nach, ganz wie beim Shoppen – bloß mit Sachen, die einem eigentlich gar nicht mehr gefallen und bloß Staub anziehen. Dieses Zeug kann man spenden. Und den Vorgang quasi täglich wiederholen, bis die Bude nur noch Sachen beherbergt, die einem wirklich was bedeuten.

Okay, gehen wir mal davon aus, dass man irgendwann sein Leben entschlackt hat, alles ist auf das Wesentliche beschränkt. Dann kommt der härteste Teil: den „Hackney-Effekt“ dauerhauft auszusperren. Nicht wieder in die erprobte Anhäufungsfalle zu tappen. Dafür gibt es Regeln.
Zum Beispiel: Für jedes neu angeschaffte Teil wird eines aussortiert. Eine Bohrmaschine kann man leihen, man muss nicht immer gleich neu kaufen. Und alles, was man hat, muss sichtbar sein – Schluss mit Ramschecken und geheimen Müllschubladen.

Das Schöne ist: Wenn man mal mit dem Vereinfachen angefangen hat, zieht es sich in alle Lebensbereiche. Muss man das Auto nehmen? (Nein.) Ist die Mail an die Kollegen wirklich wichtig? (Nein.) Und brauche ich wirklich noch diese Freundin, die mich seit Jahren eigentlich nur nervt mit ihrem Genörgel? (Hölle, nein!)

So in etwa funktioniert Minimalismus. Er befreit und sorgt für freiere Atemwege. Weiß man inzwischen sogar im Osten von London.